Mit dem strengen Titel ''Sitten-Kontroll-Buch'' ist ein Register überschrieben, das im Gemeindearchiv Bärenthal liegt. Dieses 140 seitige Buch im stattlichen Folioformat vermag von vielen Details zu berichten, die sich zwischen 1836 bis weit ins 20. Jh. in der kleinen Gemeinde zugetragen haben. ''Sitten-Kontrolle'' - die Obrigkeit wachte über ihre Untertanen und mischte sich in Dinge ein, die heute für Staat oder Gemeinde tabu sind. Verurteilungen von Bärenthalern durch Gerichte in Sigmaringen und anderswo sind dort ebenso zu finden, wie viele Eintragungen über kleine Vergehen und Übertretungen.
Die Zahl der außerehelichen Geburten war in Bärenthal im 19. Jh. sehr hoch, ''Was die Sittlichkeit anbelangt, so bildet die Zahl der unehelichen Kinder einen nicht unbedeutenden Fleck', schreibt Pater Notker Hiegel in seinem Chronicon der Pfarrei in Berenthal''. Laut ''Sitten-Kontroll-Buch' wurden wiederholt viele Männer und Frauen wegen ''Schwängerungsvergehen zu mehrtägiger Strafarbeit verurteilt. So am 7. Januar 1837 ein lediger Mann wegen des "vierten Unzuchtvergehens'' zu einer 52tägigen Strafarbeit, ebenso seine Partnerin ''im nämlichen Falle'' zur gleichen Strafe.
Penibel zählte die Obrigkeit mit. Die ausgesprochenen Strafen waren jedoch für ein und dasselbe Vergehen unterschiedlich hoch.
Warum erhielt eine andere Frau für den ''vierten Schwängerungsfall'' nur den Vermerk im Sittenkontrollbuch, während das oben genannte Paar für dieselbe Tat mit 52 Tagen Strafarbeit verurteilt wurde?
Es lässt sich unschwer vorstellen, was es für diese Menschen bedeutete, nun wochenlang eine Strafarbeit zu verrichten oder ein paar Tage im Arrest zu verbringen. Das Gespött der Leute war ihnen sicher. Ab 1839 fehlen die Angaben über die Strafhöhe für unzüchtige Handlungen, und in den 1850er Jahren gingen die Einträge wegen eines solchen Delikts stark zurück.
Was war nun die Ursache für die vielen Einträge sittlicher Art? Immerhin, im Jahre 1837 waren von 22 Eintragungen bei 19 ''Unzucht'' oder ''Schwängerung'' als Grund vermerkt, und 1838 hatten von 19 Eintragungen 14 diesen Vermerk. In jener Zeit durfte nicht jeder heiraten. Erst wer ein Vermögen nachweisen oder sonst versichern konnte, dass er eine Familie ernähren und der Gemeindekasse nicht zur Last fallen würde, erhielt den Heiratskonsens. Diese restruktive Heiratspolitik hatte viele uneheliche Kinder zur Folge.
Doch beileibe gibt es nicht nur Einträge solcher Art in diesem Buch, auch wenn sie anfangs sehr häufig erscheinen. Die Bärenthaler waren teilweise recht rauflustig, und die Obrigkeit ahndete diese Vorliebe mit archaischer Strenge. So wurden am 16. Oktober 1841 die ledigen Burschen Franz Karl Bek, Sales Bek, Dominikus Bek, Johann Bek und Alois Greiner zu Arrest zwischen sechs Wochen und acht Tagen verurteilt, zwei erhielten zudem noch zweimal ''15 Stokstreich".
Drei Jahre später galt es, wieder eine größere "Schlägerei und Körperverletzung'' zu ahnden. Johann Bek, Ölmüller, wurde wegen verübter Schlägerei zu 30 Tagen Bürgerarrest, davon jeder sechste Tag Dunkelarrest mit schmaler ''Azung'' bestraft. Vier weitere Bärenthaler wurden wegen ''Antheilnahme an obigen Exzessen" mit ähnlichen Strafen belegt, wobei jedes mal die Dunkelhaft und die ''schmale Azung'' an diesem Tag verschärfend hinzukamen.
Die Schlaghändel fanden natürlich nicht nur in Bärenthal statt. Die Bärenthaler rauften auch in Kolbingen, Beuron und anderswo. Manchmal wird recht ausführlich vermerkt, wie sich solche Gewaltigkeiten abspielten.
Albrecht und Bernhard Greiner sowie Mammert Spöri warfen vorsätzlich mit Steinen und ''Briegel'' auf Menschen, was ihnen jeweils fünf Taler, ersatzweise fünf Tage im Gefängnis einbrachte. Die Bärenthaler Rabauken hatten allerhand "Misshandlungen von Menschen", wie es hieß, zustande gebracht. Nikolaus Greiner, der Sohn des Gemeindebäckers Simon Greiner, bekam wegen vorsätzlicher Körperverletzung ein halbes Jahr Gefängnis u. a. auch wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Dem Polizeidiener Marzell Greiner von Bärenthal musste er zudem noch 38 Mark und 50 Pfennige bezahlen, ebenso dem Jacob Oexle eine Buße von 15 Mark und 20 Pfennige. Wahrscheinlich hatte sich Nikolaus Greiner heftig gewehrt, als ihn der Polizeidiener abführen wollte.
Raufereien und ähnlichem gingen meist Beschimpfungen voraus. Der Öler (Ölmüller) Sales Bek erhielt so im Dezember 1842 wegen Beschimpfungen und Ungehorsams gegen den Gendarm Schäfer 18 Tage Arrest. Ein Vierteljahr später kassierte Karl Muri wegen Beschimpfung des Bürgermeisters Bek die gleiche Strafe. Das Maul machten sie schon auf und schimpften ''ungebührlich" aufeinander und auf die Obrigkeit. 1845 bekam der ledige Martin Bek wegen "Äußerung gegen die Obrigkeit" eine sechstägige Arreststrafe, die zur Hälfte durch "dunklen Arrest'' verschärft wurde. Was er denn nun geäußert hatte, wurde leider nicht vermerkt. Die Obrigkeit hatte es gewiss nicht ganz einfach in diesem Zipfel der hohenzollerischen später preußischen Herrschaft. Wegen groben Benehmens gegen Polizeidiener Carl Muri erhielt 1857 Melchior Greiner eine 24stündige Arreststrafe, und Alois Biselli beleidigte den Polizeidiener, als der ihn beim ''Übersitzen der Polizeistunde" im Wirtshaus erwischte.
Und als Josef Greiner Wendels den Polizeidiener Muri öffentlich beleidigte, musste er nach dem Urteil der Kreisgerichtsdeputation Sigmaringen für eine Woche ins Gefängnis gehen.
Carl Muri selbst, der viel beschimpfte Polizeidiener des Orts, war jedoch ebenfalls kein Kind von Traurigkeit. Wegen Schimpfens und Schreiens gegen Gendarm Eisenblatt auf der Straße bekam er 1857 eine Strafe von 3 1/2 Gulden oder zwei Tage Gefängnis. Ein knappes Jahr später hatte sich Muri wieder mit dem Gendarm angelegt und wurde von der Kreisgerichts-Kommission Wald zu 20 Gulden ersatzweise zehn Tage Haft verurteilt. 1860 entließ die Gemeinde Carl Muri wegen ''Dienstnachlässigkeit in der Eigenschaft als Amtsbof'. Der Eintrag der Entlassung ins '' Sitten-Kontroll-Buch'' war schon als Strafe anzusehen. Allerdings, 1863 erschien Muri wieder als Polizeidiener, als ihn Josef Greiner öffentlich beleidigte. "Wörtlich und tätlich" beleidigte 1873 Gabriel Bek den nunmehrigen Polizeidiener Greiner in der Öffentlichkeit. Die Geldbuße war da mit fünf Talern recht gering. Ob Polizeidiener oder Pfarrer, Beschimpfungen gab es häufig. Josef Ströbel verübte 1873 eine ''öffentliche Amtsehrenbeleidigung'' des Polizeidieners in Laiz, und Martin Mauer lärmte 1858 in Gallmannsweil und erhielt wegen gröblicher Beschimpfung des dortigen Herrn Pfarrers Hausmann 14 Tage Gefängnis, wovon fünf Tage mit Hungerkost sein sollten. Als der schon oben erwähnte Ölmüller Sales Bek Bürgermeister Raible wissentlich falsch anschuldigte, verurteilte ihn die Sigmaringer Kreisgerichts-Deputation zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe. Als Norbert Stöhr 1867 Gendarm Levin ''in Beziehung auf seinen Beruf auf einer den Charakter der Verleumdung an sich tragende Weise'' beleidigte, kassierte er drei Wochen Gefängnis. Gar wegen Majestätsbeleidigung musste 1859 Augustin Grieble vors Gericht in Sigmaringen, das ihn zu zwei Monaten Gefängnis verurteilte.
Der Ursprung dieser Beleidigungen und Beschimpfungen lag oft im Wirtshaus. Dort trank man sich Mut an, vergaß die Polizeistunde und wie 1856, dass das ''Zechen während des Gottesdienstes'' verboten war. Die neun Zecher bezahlten je 1 3/4 Gulden oder gingen einen Tag ins Gefängnis.
Auch der Wirt, der wegen des ''Duldens von Gästen während des Gottesdienstes" angeklagt war, bekam die gleiche Strafe. Übrigens, das ''Übersitzen im Wirtshaus" kostete genauso viel.
Natürlich erscheinen in diesem ''Sitten-Kontroll-Buch' auch die Weid- und Waldfrevel, und gerade letztere legen beredtes Zeugnis ab von der Not der Bärenthaler. Selbst kleinere Entwendungen von einer ''Traglast' Lescholz wurden mit einer Geldstrafe zwischen 35 und 52 Kreuzern belegt, ersatzweise einen Tag Arrest. Es waren meist Täterinnen - Frauen oder Mädchen-, die Holz zum Kochen oder Heizen im Wald zusammenklaubten. Am 4. Mai 1857 verurteilte die Kreisgerichts-Kommission in Wald 21 Bärenthaler, natürlich meist Frauen, wegen dieser Holzdiebstähle. Und als ein Jahr später Israel Greiners Weib eine Traglast dürres Holz aus dem Wald nahm, wurde sie mit 35 Kreuzern bestraft, und zusätzlich bekam sie 48 Kreuzer Strafe für das Rupfen von Moos im Wald. Die Not war groß. Viele Bärenthaler mussten um ihren Lebensunterhalt kämpfen, wenn sie Leseholz oder Moos oder Gras, wie Xaver Seifrieds Weib, aus dem Wald nahmen. Nur wenige wagten sich an wertvollere Dinge, obwohl auch solches vorkam, wie jener Bärenthaler, der 1848 im Pfarrhaus von Leibertingen einen silbernen Kaffeelöffel stahl.
Die Not in Bärenthal war im 19. Jh. groß. Arbeitslosigkeit und die zu große Zerstückelung der Feldgrundstücke waren eine schlechte Ausgangsbasis für wirtschaftlichen Aufstieg nach der Schließung des Berg- und Eisenwerks 1922 bzw. 1832 in Bärenthal. Die fürstliche Regierung in Sigmaringen empfahl 1839 die verstärkte Einführung von Webstühlen, aber auch das Erlernen von Handwerksberufen und das Wandern, um sich an anderen Orten durch Hausierbandel etwas Geld zu verschaffen. Sie mahnte aber auch den Mangel an Arbeitslust und Arbeitseifer an.
Auf die Wanderschaft gingen dann die Bärenthaler. Viele wurden in den umliegenden Ämtern wegen des Bettelns zu kurzzeitigen Arrest- oder Gefängnisstrafen verurteilt. Männer und auch Frauen fielen wegen ''zwecklosem liederlichen Herumziehen" auf und bekamen Haftstrafen. Anna Maria Beil z. B. erhielt 1851 16 Tage Arrest, davon sechs Tage Dunkelhaft mit schmaler ''Azung'' Das Betteln wurde als Hauptdelikt der Bärenthaler im ''Sitten-Kontroll-Buch'' vermerkt. Das Betteln artete bei Augustin Grieble aus und wurde zur ''Landstreicherei''. Er bekam 1854 eine zehntägige Gefängnisstrafe und sollte nach der Verbüßung derselben, so befahl es das Kreisgericht Hechingen, ''auf einen von der Landespolizeibehörde zu bestimmenden Zeitraum von 3 Jahren nicht übersteigende Zeitdauer in ein Arbeitshaus'' eingesperrt werden. Wegen Armuts musste er die Kosten für das Verfahren nicht tragen, hieß es am Schluss des Eintrags. Trotz der mehrfach verhängten "schmalen Kost" in den 1850erund 18 60er Jahren war der Schuster Peter Greiner nicht vom Betteln abzubringen.
Sein "arbeitsscheues Herumziehen und ungebührliches Benehmen" brachte ihm eine Vielzahl von Einträgen ins Buch ein. Viele Verurteilungen wegen Bettelns heimsten sich auch wandernde Handwerksgesellen aus Bärenthal ein. Die Namen der verurteilenden Gerichte weisen den Weg, den diese Wandergesellen gingen und die sich in diesem ''Erwerbszweig'' versuchten oder dazu gezwungen waren. Steinhauer, Ziegler und Bierbrauer waren darunter. So lässt sich die Wanderschaft des Bierbrauers Leo Bek an seinen Verurteilungen wegen Bettelns fast genau nachvollziehen: Januar 1879 Stuttgart, Januar 1879 Hechingen, Februar 1879 Ebingen, März 1879 Überlingen, März 1879 Konstanz, Juli 1879 Minnenstadt (?), Oktober 1879 Ravensburg, Dezember 1879 Riedlingen, Februar 1880 Heidenheim, Mai 1980 Ulm, Juli 1880 Waiblingen, Juli 1880 Waldsee, Oktober 1980 Mindelheim, März 1881 Schongau. An letzterem Ort wurde er wegen Bettelns und Landstreicherei zu 14 Tagen Haft verurteilt und aus Bayern verwiesen. Irgendwie muss sich Bek diese Strafe zu Herzen genommen haben, denn außer zwei weiteren Malen taucht sein Name in diesem Buch nicht mehr auf. Der Maurer Bek aus Bärenthal bettelte selbst in Berlin, denn das Amtsgericht Charlottenburg verurteilte ihn im Januar 1902 wegen Bettelns mit einem Tag Haft.
Viele versuchten, so wie es die Obrigkeit in Sigmaringen empfohlen hatte, durch das Hausierergewerbe der Not zu entkommen. Die Verurteilungen wegen "unbefugten und leichten Brotverkaufs'' 1854 deuten darauf hin. Sie vergaßen ihr Gewerbe anzumelden, wie die 1873/74 ertappten Bärenthaler, die den Branntweinhandel ohne Genehmigung betrieben.
In den Nachbarorten wurde sehr darauf geachtet, dass ja kein Bärenthaler in den Waldungen etwas mitnahm und sei es nur dürres Holz oder Haselnüsse. So wurden der Nagler Engelbert Stöhr und der Tagelöhner Martin Maier wegen Haselnusssammelns auf Irndorfer Markung mit Strafen belegt. Die Strafen wandelten sich mit der Zeit. Im Zuge der starken Auswanderungen Mitte der 1880er Jahre wurden 1885 mehrere Bärenthaler zu der hohen Geldstrafe von 200 Mark verurteilt, ersatzweise 40 Tage Haft, weil sie unerlaubt ausgewandert waren. Drei Jahre später traf es vier junge Bärenthaler, die sich der "Verletzung der Wehrpflicht' schuldig machten, weil sie sich ebenfalls aus dem Ort entfernt hatten und nicht mehr zum preußischen Militär gezogen werden konnten. Wie aus einer anderen Welt erscheint da die eine Mark, die 1889 die Krämerin Martin Öxle Witwe bezahlen musste, weil sie am Sonntagmorgen während des Gottesdienstes die Schaufenster an ihrem Kaufladen nicht geschlossen hatte.